Ruth Reimann-Möller

… alles in Scherben …

Das letzte BDM-Mädel und das Kriegsende an der Elbe

Auf der Banndienstelle: „Greuel unvorstellbaren Ausmaßes … “

Wenn es stimmte, was Klasse acht gesagt hatte, dass die Schulen kriegsbedingt geschlossen hätten, dann war Direktor Dr. T. für Klasse sieben nicht mehr zuständig. Also stürmte andern Tags „der harte Kern“ die Banndienstelle Bethanienstraße, um Bann- Mädelführerin Hannedore nach einer sinnvollen Verwendung im Kriegshilfsdienst zu befragen. Die älteren Mitschülerinnen sollten Fabrikarbeit leisten, aber wir wußten nicht, wo sie eingesetzt waren, und außerdem empfanden wir „abgebrochenen“ GD-Mädchen, gestern von einem Kursus heimgeschickt, Fabrikarbeit als nicht verantwortungsvoll genug für uns!

Zu unserem leisen Befremden fanden wir den Vorplatz der Uralt- Kaserne des Alten Fritzen mit Hans-Sachs-Denkmal und unser „Bethanienschloss“ selbst, ein wahrer Taubenschlag bisher, in ungewohnter Stille und Einsamkeit vor. Hier waren wir aus- und eingegangen, hatten uns in dem alten Gemäuer wie zu Hause gefühlt; einigen von uns waren hier sogar Dienstzimmer zugeteilt, zum Beispiel Ringführerin Jutta und mir, Pressestellenleiterin seit Ingolfs Einberufung nach Peenemünde im September, - aber noch nie war uns aufgefallen, so wie jetzt, dass die ausgetretenen Treppenstufen so gewaltig knarrten! Etwas war anders hier als sonst!

Wir Luisenschülerinnen fanden Hannedore in ihrem „Allerheiligsten“ am Schreibtisch sitzend gänzlich verändert vor, wie schwer bedrückt, vielleicht krank oder in Trauer. Der Wehrmachtsbericht hatte gemeldet, Danzig wäre ein einziges Feuermeer … welcher Jammer! Artushof! St. Marien! Krantor! Dass mein Flieger- Vetter dort verheiratet war, hatte ich zum Anlass genommen, das Säuglings-Pflege-Praktikum, wenn schon nicht in Innsbruck, so doch in Langfuhr abzuleisten, mit Schlafplatz bei neuen Verwandten … Ich fragte Hannedore, ob sie sich so sehr um ihre schöne Heimatstadt grämte, vielleicht Verwandte da verloren hätte? Nein, sagte die Bann-Mädelführerin, sie könne sich jetzt um nichts anderes mehr grämen, als ausschließlich um sich selber, leider. Denn sobald Deutschland demnächst gänzlich von alliierten Truppen besetzt sein werde, müsse sie ihr Leben als ständig gefährdet ansehen. Da stockte mir der Atem!

Deutschland von alliierten Truppen gänzlich besetzt???? Hannedores Leben gefährdet? Unfassbar, so etwas hören zu müssen! Und in der Bann-Dienststelle auch noch!!! … Das war ein Augenblick gleich dem, da Bischof Winfried-Bonifatius bei Geismar die Donar- Eiche fällte, im Jahre 724! Gleich müsse Thors Hammer niederfahren, um frevelhaften Abfall vom Glauben zu bestrafen; fürchtete ich, die spintisierende viel zu junge Pressereferentin. Jeden einzigen Pressebericht über HJ-Veranstaltungen hatte ich mit der Beschwörung des Endsiegs abgeschlossen, ganz aus eigenem Antrieb, nicht, weil es mir jemand ausdrücklich befohlen hätte … Denn etwas anderes konnte es nicht geben, weil ich mir, erst recht im heil gebliebenen Burg „sieben Meilen hinter dem Mond“, nichts anderes vorstellen konnte! Zu meiner Verwunderung blieb wie in Geismar Thors strafender Hammer aus.

Auch meine Klassenkameradinnen waren in starker Gemütsbewegung:

„Dein Leben gefährdet, Hannedore? Wieso?“

„Aus Rache für Kriegsverbrechen!“

„Kriegsverbrechen? Was’n des? Kriege gibt’s doch, seit sich die Neandertaler um’s Mammut in der Grube kloppten! Und das heißt auf einmal Verbrechen?“

„Und Kriege gab’s inzwischen so viele, dass Mitbürger Clausewitz ein zwölfbändiges Werk darüber schreiben konnte!“ „Kriege anzufangen war noch niemals strafbar! Warum ist denn Napoleon mit der Grande Armée quer durch Europa gelatscht? Was hatte der denn hier zu suchen?“

„Un denn de Russen! Haben zu Hause Donnerbalken auf’m Acker statt Toiletten in den Häusern, aber müssen unbedingt Weltrevolution machen! Bloß wenn wir Deutschen mal einen genialen Heerführer haben, dann sollen wir nichts dürfen … Wieso soll sich alle Welt immer nach Untermenschen oder Pfeffersäcken richten! Wir wollen auch mal dran!“

Hannedore sagte, es handele sich hier nicht um die Entfesselung des 2. Weltkrieges und zerstörerische Folgen von Kampfhandlungen, wenigstens nicht nur darum allein! Sondern, zur Hauptsache: Unsere Partei, die NSDAP, Dachorganisation auch für HJ und BDM, habe in Feindesland, da, wo wir nicht hingucken konnten, Verbrechen größten Ausmaßes begangen, Greueltaten, die nun alle noch so kleinen Parteimitglieder zu verantworten hätten. Die Rache werde fürchterlich sein, und darum sähe sie ihr Leben als gefährdet an.

„Phhhh!“, antworteten wir ihr, „Blödsinn! Alles Greuelpropaganda! Kennt man schon! Desinformationspolitik der Feinde! ‚Verbrechen größten Ausmaßes ‘! Was soll man sich denn darunter vorstellen?“

Es ist möglich, dass genau an diesem Tag nach dem Ausrücken der Garnison Offiziersfrauen ihre Schweigepflicht gebrochen und ihrer Freundin Hannedore die Erkenntnisse der Standortführung über das Auffinden von Gaskammern und Massengräbern gesprächsweise mitgeteilt hatten. Über Einzelheiten mochte sich Hannedore gegenüber uns allerdings nicht auslassen, und so blieben wir bei unserem Unglauben.

„Aber Ihr braucht keine Angst zu haben,“ fuhr sie mit ihrem Thema fort, „ihr seid ja noch jung. Ihr habt Amnestie!“ Ich war sprachlos! Was für neue Vokabeln waren das bloß, die man hier zu hören bekam!? Früher Heimabende zum Thema

Heimat, deine Wächter trinken
Trotz aus blutgetränktem Strom,
mögen deine Dome sinken, –
Deutschland bauen wir als Dom …

jetzt: „Kriegsverbrechen, Greueltaten, Rache, Amnestie!“ Die Unglückliche in ihrer plötzlichen Existenzangst dauerte uns Besucherinnen. Wir warfen uns auf sie, als wollten wir ihren Körper schützen, und riefen:

„Du und gefährdet! Hannedore, du bist doch nicht viel älter als wir! Du müßtest doch auch Amnestie bekommen! Und wenn du gefährdet bist, wollen wir auch gefährdet sein! Bitte, hole die Anmeldeformulare, wir wollen in die Partei eintreten!“ Zuerst überhörte die Bann-Mädelführerin das Ansinnen, musste noch weitere Male aufgefordert werden und ging dann diplomatisch zögerlich auf das Thema ein.

„Wie alt seid ihr denn?“

„Siebzehn!“

„Dann geht es nicht! Das ist zu jung!“ Aber einige Sitzenbleiberinnen waren schon achtzehn!

„Bitte, Hannedore, hole die Anmeldeformulare!“ Zuletzt schloss Hannedore das Thema ab mit der energischen Zurückweisung:

„Ach, was sollen die Dinger denn hier rumliegen!“

Rumliegen???

Es war der 11. April 1945!

Endlich kam Klasse sieben zum Grund ihres Besuchs: „Wir melden uns zum Kriegshilfsdienst und möchten eine Stelle vermittelt bekommen!“ …